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Exkurs

Ach, das Korrekturlesen

»Wenn ich mich ein wenig aufrichte, kann ich mit der Nasenspitze grade über den Bücherstapel hinwegsehen. Nein, aber was zu viel ist, ist zu viel … und bei jedem Wort werfe ich ein Buch herunter, das ich auswendig kann, ohne es gelesen zu haben«. Derart eröffnet Kurt Tucholsky eine seiner zahlreichen pointierten Rezensionssammlungen Auf dem Nachttisch in der Weltbühne. Allein die Einleitungen – meist nur zwei, drei Sätze, eine kleine Geschichte, die in einer überraschenden Wendung endet –, sind Lesevergnügen pur. Hier gleich eine weitere Kostprobe: »Entweder du liest eine Frau, oder du umarmst ein Buch, beides zugleich geht nicht. Jetzt aber ist Junggesellenzeit – umarmen wir ein Buch.« Nein, ein Buch über alle wunderschönen Nachttisch-Anfänge gibt es nicht. Da muss man schon zu Tucholskys Gesammelte Werke greifen.

Pflichtlesen
Zum regelmäßigen Vergnügen sollte für einen Autor das rezensionelle Stapellesen der von der Gilde Literaturkritik produzierten Buchkritiken gehören. Deren Mitglieder stecken ihre Nasenspitze gänzlich hemmungslos, unprätentiös und selbstsicher zwischen die Buchseiten fremder Autoren. Und sie nehmen auch kein noch so weißes Blatt vor den Mund, wenn es sich um ordentliche Kritikgründe handelt, die benannt werden müssen. So schreibt Erhard Jöst in seinem Artikel Den Sprachereignissen auf der Spur ziemlich erbost: »Man vergisst bei so vielen Personen vielleicht ganz seinen Ärger darüber, dass Görners Buch überaus schlampig lektoriert worden ist. Denn bei einer sorgfältig durchgeführten Kontrolle hätte man die vielen Rechtschreib- und vor allem Zeichensetzungs-Fehler wenigstens auf ein erträgliches Maß reduzieren können.«1 Und sein Kollege Willi Huntemann – Wer nicht hören will, muss lesen? – stößt gar einen Warnruf aus: »Vom Kauf sei dringendst abgeraten, wenn man sich nicht – so der ursprüngliche Titel der Vortragsreihe – ein E für ein U vormachen lassen will.«2 Aua, das sitzt.

Ja, das Korrekturlesen im Literaturbetrieb, das ist zu einem leidigen Thema geworden. Und warum? Weil diese Arbeit ein zwar notwendiges, doch scheinbar schwer zu bewerkstelligendes Übel ist, das man am liebsten umgeht. Warum umgeht man es? Weil es Kosten verursacht. Kosten! Bei diesem Wort bekommen alle Verlagscontroller Magenkrämpfe. Und so erscheinen viele Bücher außen hui, innen pfui.

Menschen und Bücher müssen in mehr als eine Korrektur gelangen, um die Errata zu verlieren.
— Jean Paul, Palingenesien

Die andere Seite der Korrekturarbeit
Es gibt noch eine andere Seite, die wir hier nicht vergessen dürfen zu erwähnen. »Dieses Buch wäre ohne Mithilfe vieler Freunde und Kollegen nicht möglich gewesen …«, so oder ähnlich steht es in vielen Dankesworten. Was nichts anderes bedeutet: Eine stattliche Anzahl von Helferarbeiten muss fremd und privat für das Buch geleistet worden sein. So lesen wir über den Dank »für seine gewissenhaften Register- und Korrekturarbeiten«, »für wertvolle Beratung bei den fachlichen Beiträgen und der akribischen Korrekturarbeit«, »für die lichtvolle Korrektur«, »für unerlässliche, scharfsinnige Korrekturen«, »für mühevolle Hilfe bei der Korrektur«, »für wertvolle Korrekturen in letzter Minute«, »für fruchtbringendes Mitlesen der Korrekturen« et cetera. Fragen Sie sich einmal, was dieser Aspekt über das wahre Interesse an Büchern einiger, wenn nicht sogar vieler Verlage aussagen könnte.

Bei der so großen Sorgfalt, die ich bei diesem Buche auf die Korrektur verwendet habe, ist es schmachvoll, noch so grobe Fehler in den fertigen Bögen zu finden, Fehler, die ich ganz bestimmt korrigiert habe. Dies darf denn doch nicht geduldet werden.
— Justus von Liebig, Brief an den Verleger Eduard Vieweg, 20. Februar 1842.

Problemlösung
Im Lehrbuch Grundlagen der Informatik von Helmut Balzert lesen wir: »Fehler im Problemlösungsprozeß führen dazu, daß entweder gar keine Lösung gefunden wird, obwohl sie existiert, oder daß nur eine mangelhafte Lösung erkannt wird, die noch weit vom Optimum entfernt ist«. Ein Buch herauszubringen bedeutet nichts anderes als einen Problemlösungsprozess in Gang zu setzen und erfolgreich zu beenden. Es existiert ein Problem, eine Idee oder Geschichte. Ein Autor entdeckt, dass er dazu etwas zu sagen hätte, setzt sich hin und schreibt ein Buch: Der Lösungsprozess kommt in die Welt. Was nicht in die Welt kommt, ist der Korrekturprozess. Digitale Schreibkorrektur hin oder her.

Viele Bücher scheinen weit vom Optimum entfernt zu sein, die, so beurteile ich es, nach dem Motto »Dabeisein ist alles« für den schon allzu hohen Nachttischstapel produziert werden. »Back to the roots« wollte man da den Autoren zurufen und »Hinsetzen und Hausaufgaben machen!« den Verlagen. Was hätte wohl Tucholsky dazu geschrieben?

Phenomena erratum
Jetzt muss ich noch einmal zurück zu den Literaturkritikern. Lutz Hagestedt zitiert in seiner Rezension Von schönen Fehlern und Plagiaten – bezugnehmend auf Hanns Zischlers Schrift Errata. Fehler aus zweiter Hand – den Verleger und Schriftsteller V. O. Stomps mit dem Satz: »Ein Buch ohne Druckfehler ist unanständig.« Fehler seien zuzulassen, nötigenfalls eigens einzubauen, resümiert Hagestedt.3 Er hätte an Marcel Proust seine Freude an Fehlern ausleben können. Walter Benjamin berichtet von Gallimard, Prousts Verleger, dass Proust die Korrekturfahnen immer randvoll beschrieben zurückgab. »Aber kein einziger Druckfehler war ausgemerzt worden; aller verfügbare Raum war mit neuem Texte erfüllt. So wirkte die Gesetzlichkeit des Erinnerns noch im Umfang des Werks sich aus.«4 Gegen eine solche Schriftstellerkonstitution kommt auch der hartnäckigste Druckfehlerteufel nicht an.

Wortfeld
Ärgerlich Ausgabe bedauerlich Berichtigung Corrigenda Druckfehler Druckfehlerteufel editieren einschleichen Errata-Zettel Erratum Fahne Fehler Fehlerbeseitigung geringfügig handschriftlich Irrtum Korrigendum kosmetisch Modifikation Nachbesserung peinlich Schadenfreude störend Text überfällig Umarbeitung Versehen wimmeln Wort-Ruptur zahllos zahlreich.

Literatur
1 Erhard Jöst: Den Sprachereignissen auf der Spur. [literaturkritik.de/id/22548] – 2020-06-19 | 2 Willi Huntemann: Wer nicht hören will, muss lesen? [literaturkritik.de/id/22600] – 2020-06-19 | 3 Lutz Hagestedt: Von schönen Fehlern und Plagiaten. [literaturkritik.de/id/22095] – 2020-06-19 | 4 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. II · 1. Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main, 1997. S. 312.